Interview mit Prof. Gereon Wolters zum Thema Wissenschaftstheorie.
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In unserem Podcast geht es um Wissenschaft, und wie sie Wissen schafft.
Interview mit Prof. Gereon Wolters zum Thema Wissenschaftstheorie.
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Hallo Philip, hallo Andy.
In diesem Podcast wird die These geäußert, Popper und der Wiener Kreis haben viel gemeinsam, aus einer gewissen Perspektive verfolge man das gleiche Ziel, Popper könne man guten Gewissens mit dem Wiener Kreis versöhnen.
Die Argumente sind auf der Metaebene recht verführerisch, gebe ich zu, wenn es heißt, eine Falsifikation sei eine gescheiterte Verifikation. Aber tatsächlich geht es doch wohl eher um die Heuristik: Das Vermeiden von Verifikationen und stattdessen die Kreativität, einen falsifizierenden Versuch-Aufbau zu finden.
Verlassen wir die abstrakte Ebene, gehen wir in einen Alltag. Den Kommentar wollte ich schreiben, weil mir aus meiner Arbeitspraxis eine nette Analogie eingefallen ist:
Ich arbeite als Wirtschaftsinformatiker. Oftmals geht es um das Testen von Programmen, welche individuell für den Kunden von uns entwickelt werden. Es ist nun ein immer wieder anzutreffendes Wunschdenken, man müsse die Kunden nur lang genug das Programm vor dem Go-Live anwenden lassen, die Kunden sollen z. B. 50 Prozesse durchspielen, natürlich mit einigen Varianten etc. Das ist das verifizierende Prinzip. Wenn keine Fehler auftreten, dann gilt das Programm als fehlerfrei und wird zum produktiven Einsatz freigegeben. Und siehe da, es scheitert regelmäßig, weil in der Praxis Datensätze vorkommen, an die niemand beim Testen dachte! Weil man zu sehr den regulären Ablauf im Sinn hat! Der Ansatz von Popper ist eben grundverschieden, auch wenn die Konsequenzen gleich sein mögen, wenn bei dem beschriebenen Testverfahren (induktiv) ein Fehler festgestellt wird: Das Programm muss angepasst werden, Bugfixing.
Wie sähe der Weg von Popper aus? Auch hier muss natürlich zunächst der positive, verifizierende Fall durchgespielt werden, dazu reicht im Zweifelsfall aber immer ein einziger Testdurchlauf, dazu muss man keine Anwender quälen, ein Programm zum Testen wie im Alltag anwenden zu lassen. Dann aber ist der entscheidende Moment die Kreativität, das ernsthafte Überlegen, welche Eingaben könnten nun schädlich sein! Das kann dann der Wert 0 sein (Division durch 0 in einer Formel), das kann die Eingabe von Buchstaben in einem Online-Formular sein, welches eigentlich zur Eingabe von numerischen Werten vorgesehen ist. Diese Art von „Bestätigung der Theorie der Fehlerfreiheit des Programms“ ist in meinem Beruf nicht selbstverständlich, es wird als nörgelnd oder gar destruktiv angesehen, sich so sehr zu bemühen, das Programm zum Absturz zu bringen! Aber genau das ist notwendig, um die Auslieferung mit gutem Gewissen durchführen zu können! Nur die wenigsten QS-Abteilungen folgen diesem Weg. Würden sie Popper kennen, wäre das ein Segen für die professionelle Software-Entwicklung! Ganz nett, die Analogie, denke ich. Und sehr aufschlussreich für die Abgrenzung zum Logischen Empirismus.
Für mich hat Popper eine Leistung ganz hohen Ranges vollbracht, weil er es schaffte, Wunschbilder wie das induktive Prinzip zu entlarven. Ein Vergleich wäre Kepler, welcher die absolut ungewöhnliche Einsicht gewann, das Denken in Kreisen sei nur ein Wunschdenken, das sei das große Hindernis bisher gewesen! Auch wenn jemand zu Keplers Theorie später sagen könnte, die gefundenen Ellipsen seien ja eben doch fast Kreise! Aber genau über diese Kreise konnte niemand zuvor hinauskommen, weil Kreise die Wahrheit sein mussten, Kreise als Grundidee der Perfektion. Und da darf man sich als Philosoph schon vehement abgrenzen, wenn die eigene Leistung in Gefahr ist, verkannt zu werden. Wie gesagt, ich empfinde es so, als würde man zu Kepler sagen, unsere Kreise seien doch fast so gut wie deine Ellipsen, da fehlt ja nicht viel!
VG
Christian
Hallo Christian
herzlichen Dank für Deinen Kommentar und, dass Du für Karl Popper und seinen besonderen Beitrag zur Wissenschaftstheorie eine Lanze brichst. Wenn ich recht erinnere haben Philip und ich in der ersten Episode unter anderem auch über die Bedeutung des Prinzips der Falsifikation und das logische Scheitern der Induktion gesprochen. Dein Beispiel bezüglich des Vorgehens im konkreten Fall beim Versuch eine Hypothese zu widerlegen finde ich sehr hilfreich.
Gerne versuche ich Argumente für die Position von Herrn Prof. Wolters anzuführen. Dabei greife ich auf Ian Hackings Buch Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften zurück, das insbesondere zu empfehlen ist, wenn man sich mit Entitätenrealismus beschäftigen möchte. Hacking beschreibt als gemeinsamen Boden von Carnap, einem der Hauptvertreter des logischen Empirismus, die Annahme einer trennscharfen Unterscheidung von Theorie und Beobachtung. Die Annahme, dass die Entwicklung von Erkenntnissen im grossen und ganzen kumulativ voran schreitet. Beide sind der Meinung, dass die Wissenschaft eine deduktive Struktur aufweist. Beide sind der Auffassung, dass die Terminologie präzise ist oder präzise sein sollte. Beide gehen von der Einheit der Wissenschaft aus, alle Wissenschaften sollen dieselben Methoden zum Einsatz bringen. Nach beider Auffassung, sind die Naturwissenschaften Bestandteil einer einzigen Wissenschaft (Biologie lässt sich auf Chemie zurückführen und diese wiederum auf die Physik). Beide sind der Meinung, dass es eine Unterscheidung zwischen Begründungszusammenhang und Entdeckungszusammenhang gibt. All dies beispielsweise im Gegensatz zu Kuhn, der jedem Punkt widersprechen würde.
Insofern kann ich die Position von Herrn Prof. Wolters nachvollziehen, finde Deinen Hinweis aber auch bedeutsam.
VG
andreas
Hi. Ich wusste das vorher nicht, dass mein Vergleich mit Kepler sogar Popper in seinen Spätwerk erwähnt: „Alles Denken ist Problemlösen“!
Kapitel 6 zu Kepler:
„Meine ganze Methodologie besteht in der Bemerkung, daß die Naturwissenschaften eine Wirklichkeit zu finden suchen, die hinter den Erscheinungen verborgen ist, und daß wir überall dort, wo wir nichts wissen, eben raten müssen, genau wie es Kepler tat; und daß, wenn wir unsere prüfbaren Hypothesen an der Erfahrung streng überprüfen wollen, wie Kepler es tat, diese Hypothesen dann nicht mehr metaphysische Hypothesen sind, sondern zu wissenschaftlichen Hypothesen werden, die uns erlauben, von unseren Irrtümern zu lernen: So tat es Kepler, der seine Irrtümer eliminierte und dadurch lernte. Er entdeckte den wichtigsten von ihnen — die Hypothese der Kreisbahnen aller Gestirne, die ein altes Dogma war — dadurch, daß er diese Hypothese mit Tycho Brahes Beobachtungen konfrontierte.
Kepler selbst sagt wenigstens zehnmal, daß das, was er tue, Widerlegungen seien: Er sagt, immer wieder, von seiner eben zurückgewiesenen Hypothese, die er vor ganz kurzem erfunden hat, daß diese Hypothese durch Tychos Messungen widerlegt sei und daß er deshalb eine neue Hypothese erfinden und ausprobieren müsse.
So kommt er zur Widerlegung, zur Falsifikation, der Kreishypothese; und so kommt er, nach mehreren weiteren Widerlegungen, die er ausdrücklich als Widerlegungen bezeichnet, schließlich zur Ellipsenhypothese. Den Flächensatz erreicht er noch nicht ganz in der Astronomia Nova, auch nicht 10 Jahre später in der Harmonice Mundi, sondern erst in dem Kurzen Lehrbuch der kopernikanischen Astronomie, der Epitome, veröffentlicht im Jahre 1620.
Es wurde oft bemerkt, daß Kepler die zwei ersten Keplerschen Gesetze nicht allzusehr betont. Warum? Er wollte die Himmelsmechanik aufdecken, die Wahrheit, die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen; nicht bloß eine bessere Beschreibung wollte er, sondern eine kausale Erklärung, eine Himmels- physik.“
Mein Tipp: Das ganze Kapitel ist sehr erhellend, um Popper wirklich kennenzulernen.